ADHS - Selbstwertgefühl, Dissoziation und Identität

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von Piero Rossi


Menschen benötigen zur erfolgreichen Bewältigung der sich im Verlaufe ihres Lebens stellenden Aufgaben und Hürden neben anderen Voraussetzungen in erster Linie eine 'gesunde Portion' Selbstwert- und Identitätsgefühl. Erfolgserlebnisse in verschiedenen Lebensbereichen, sowie mehrheitlich kohärente Erfahrung mit der sozialen Umwelt und mit sich selbst, ermöglichen beim heranwachsenden Menschen die Entstehung eines relativ stabilen Selbstbildes und eines 'runden' und in sich schlüssigen Ichgefühls. Diese gewährleisten u.a. eine innere Konstanz, emotionale Resistenz sowie psychische Gesundheit, Beziehungsfähigkeit, Selbstzufriedenheit und Genussfähigkeit.

Das psychisch gesunde und lebenstüchtige Kind kann sich im Verlauf seiner Lern- und Lebensgeschichte mehrheitlich als Individuum, also als "unteilbares" Subjekt erfahren (Individuum = das Unteilbare): Es hat 'ein Gesicht', 'einen' Ruf, 'einen' Charakter und 'ein' Temperament. Es zeigt ein mehr oder weniger durchgängiges Leistungsprofil in der Schule, hat seine (u.a. sexuellen) Präferenzen sowie seine Leidenschaften, seine Geheimnisse und Hobbys.

Alle diese Aspekte des Daseins, welche sich im Verlaufe der Kindheit und der Jugendzeit herausbilden, verbinden sich beim psychisch mehrheitlich stabilen Heranwachsenden zu einem stabilen Identitätssinn, zu einem Selbstkonzept und zu einem Ich-Gefühl. Diese ermöglichen es, auch widersprüchliche Erfahrungen in seinen Beziehungen und der Interaktion mit der Umwelt in das Selbstbild zu integrieren. So können Probleme und Schwierigkeiten im Leben besser bewältigt werden.

Bei vielen Menschen mit ADHS sind die Erfahrungen, welche sie als Kinder und Heranwachsende mit sich und Ihrer Umwelt gewonnen haben, oftmals alles andere als identitätsstiftend:
Nicht primär Erfolge, sondern Misserfolge in der Bewältigung der Anforderungen des Lebens kennzeichnen oftmals ihren Weg. Als Kind schon erlebten sie häufig Blosstellungen, Strafen, Kränkungen, Blamagen, wurden verkannt und nicht verstanden und reagierten mit Scham, Wut und Selbsthass. Viele dieser Betroffenen 'landen' infolge der ADHS bedingten Lernstörungen irrtümlicherweise in Sonderschulen und werden nicht mehr ausreichend gefördert. So erfahren sich diese Kinder gegenüber Menschen und Aufgaben oftmals als fremd, als Versager, als dumm, als beziehungsunfähig, als "hysterisch", als chaotisch, als ungerecht oder aggressiv. Sie spüren das "Anderssein", nehmen es wahr und ziehen sich in der Folge nicht selten von sozialen Kontakten zurück. Viele soziale Kompetenzen können so nicht erworben werden und es kann Schüchternheit und Ängstlichkeit entstehen. Einige entwickeln sich zu regelrechten Eigenbrötlern. Steht die Hyperaktivität im Vordergrund der ADHS, so entwickeln diese Kinder viel Trotz und Rebellion. Viele Kinder leiden dann unter ihrem Energieüberschuss und schämen sich, wenn sie impulsiv Dinge tun, die sie eigentlich gar nicht wollen.

Wie bei der Legasthenie oder bei umgeschulten Linkshändern, kann auch die ADHS zu reaktiven Verhaltenstörungen führen. Scheiternserfahrungen und Versagensängste können das Selbstwertgefühl der Betroffenen - sofern es sich überhaupt ausbilden konnte - tief verletzen. Die Auswirkungen auf das spätere Leben sind offensichtlich:
Die Angst, zu versagen, kann zum ständigen Begleiter werden. Die nicht erfüllte Identität, das Nichterreichen des eigenen Leistungspotentials, unbefriedigende Beziehungen, psychosomatische Anfälligkeiten (z.B.: Allergien) und teilweise handfeste reaktive psychische Störungen können für die Betroffenen eine schwere Bürde darstellen.

Menschen mit einer ADHS zeichnen sich bedingt durch eine neurologische Disposition u.a. durch einen mehrheitlich 'breiten' und offenen Wahrnehmungsstil aus: Zu massgeblichen Störungen der Aufmerksamkeit und Konzentration kann es dann kommen, wenn sich in reiz- und stimulationsarmen Situationen (z.B. beim Lernen oder beim Einschlafen) der Bildkreis bzw. die Wahrnehmungsoptik 'ausweitet' (Weitwinkeloptik). In der Folge entsteht eine grosse Empfänglichkeit für internale und externe Reize. Andererseits sind Menschen mit einer ADHS oft auch ausgesprochen konzentrationsfähig (Hyperfokussieren): Wenn sie von einer Sache begeistert sind, wird ihr Frontalhirn genügend stimuliert, die neuronale Aktivität wird auf den 'Normalzustand' angehoben, und die inhibitorischen Vorgänge sowie die exekutiven Funktionen funktionieren wieder besser.

Bedingt durch die neurologischen Gegebenheiten und ihre lebensgeschichtlichen Erfahrungen haben ADHS-Betroffene oftmals Mühe auch beim Synthetisieren von widersprüchlichen Umwelterfahrungen. Die Reizoffenheit sowie die erhöhten 'Multitasking-Kompetenzen' machen ichsyntones Selbst- und Umwelterleben an sich schon sehr schwierig: Allen Reizen und ambivalenten Anforderungssituationen wird im '1:1 Modus' nachgegangen. Jeder Teilaspekt und jede Assoziation kann die Aufmerksamkeit oftmals unerbittlich auf sich ziehen. Menschen mit ADHS sind oft wie Gefangene des Augenblicks. Das Denken erfolgt oft 'mehrkanalig' und primär gegenwartsbezogen.

Auf mehreren 'Kanälen' treffen diese Reize quasi gleichzeitig im Gehirn ein und können, bedingt durch die eingeschränkten inhibitorischen Funktionen, nur ungenügend selektiert und verarbeitet werden. Die Vigilanz ist erhöht und alles erscheint dann als evident: Jeder Reiz, jeder Gedanke, jede Erinnerung, jedes Geräusch erscheint der betroffenen Person als wichtig. Die Gedanken beginnen zu springen und hüpfen. Nichts darf 'verpasst' werden. Der dadurch hervorgerufene 'mentale Stress' erzeugt und verstärkt Ablenkbarkeit und Zerstreutheit, aber auch Schlaflosigkeit, Ruminationen, Sorgen und das Grundgefühl der Irritation. Schliesslich kann das Wahrgenommene, bedingt durch die Reizüberflutung, nur selten adäquat verarbeitet werden. Folgen können sein: Desorientierung, Verwirrung, Derealisationsgefühle, Überforderungsgefühle, kurze Panikgefühle und Verzweiflung. Auch Problemlösefertigkeiten sind in der Regel nur geringfügig ausgeprägt: Schnelles Überflutetwerden durch parallel eintreffende und in der Weitwinkeloptik als immer gleich gross erscheinende 'Problempakete' lassen auch kleine Probleme schnell einmal als unbewältigbar gross erscheinen.

Die Reizoffenheit und die mit der 'Weitwinkeloptik' verbundenen Folgen bewirken auch, dass ADHS-Betroffene oftmals auch grosse Mühe bekunden, andere Menschen, Situationen in der Umwelt aber auch sich selbst adäquat einzuschätzen: "Es könnte schliesslich immer auch anders sein". Keiner Einzel-Wahrnehmung kann wirklich vertraut und 'geglaubt' werden. Was gilt, wenn sich beispielsweise "... vier Gefühle simultan einstellen"? Was ist echt? Was nicht? Das Gefühl des Selbstzweifels ist bei vielen ADHS-Betroffenen oftmals viel dominanter ausgeprägt als das Grundgefühl von Selbstsicherheit oder Selbstwertgefühl.

Der Wahrnehmungsmodus 'Weitwinkeloptik' und die mit ihr verbundene Reizüberflutung bringen es mit sich, dass der Realitätsbezug der oft parallel bzw. synchron erfolgten Wahrnehmungen nicht immer verifiziert werden kann. Alle Gedanken und alle dadurch ausgelösten Gefühle werden erst genommen, stehen quasi gleichberechtigt in einer Front und erwarten 'Einlass ins Gehirn'. Kaum wird ein Aspekt eines Gedankenganges assoziativ berührt, schon springt die Aufmerksamkeit auf andere scheinbar gleichberechtigte (da 'gleich gross' erscheinende) Teilaspekte.

"Was stimmt nun? Wer hat recht? Was gilt? Woran kann ich mich halten? Was ist wahr? Was nicht?": Dieses mentale 'hypern', von welchem viele ADHS Betroffene berichten, sowie die damit verbundene Beschleunigung des Denkens, befördern Selbstzweifel, Erschöpfbarkeit, Irritation und Angstbereitschaft.

Diese Effekte können Betroffene hochgradig erregen, fast zur Verzweiflung bringen und psychisch bis zur Dekompensation destabilisieren. Nicht selten sind automutilative Handlungen (Selbstverletzungen) die Folge. Der dadurch ausgelöste Schmerz kann dann ein Abstoppen dieses subjektiv unerträglichen Zustandes bewirken. Die Selbstverletzung wirkt dann wie ein 'Antidissoziativum' und hat gleichzeitig einen autostimulierenden Effekt, welche die kognitiven Funktionen dann wieder etwas zu normalisieren vermag. Ist die Desorientierung gross und der Erregungszustand hoch, zu können dissoziative Zustände entstehen, in welchem die Betroffenen das Gefühl haben, aus ihrem Körper oder aus der Wirklichkeit herausgetreten zu sein (Depersonalisation, Derealisation). Schnell kann es zu psychotisch anmutenden Reizüberflutungen kommen, kombiniert mit grossem Reizhunger und Impulsivität.

Immer wieder werden im Zusammenhang mit der 'Mehrkanaligkeit' auch Klagen über hartnäckige Entscheidungsschwierigkeiten genannt. Ambivalenz wird von ADHS-Betroffenen grundsätzlich besser innerlich abgebildet, als die Synthese: Das Widersprüchliche entspricht viel eher dem Multitasking-Denken.
Der 'rote Faden' bleibt oft unerkannt und unbegriffen. Menschen mit einer ADHS bekunden deswegen nicht selten grosse Mühe, sich selbst oder den eigenen Lebenszusammenhang als Ganzes zu sehen und zu erleben. Im Vordergrund stehen Zweifel und das Erleben und Verarbeiten der vielen Misserfolge, Blosstellungen und Kränkungen.

In diesem Zusammenhang kann immer wieder beobachtet werden, dass Menschen mit einer ausgeprägten ADHS es auch schwer haben, sich selbst adäquat einzuschätzen. Diese Beobachtung steht scheinbar in Widerspruch zu der Feststellung, dass Menschen mit einer ADHS, bedingt durch ihre Reizoffenheit, 'zu viel' sehen. Vor allem Menschen, welche infolge einer ADHS auch eine Angststörung entwickelten, zeichnen sich dadurch aus, dass sie durch ihre Weitwinkeloptik oftmals 'viel zu viel' wahrnehmen. In der ängstlichen Stimmung wird die Umgebung, aber auch der eigene Körper, nach Gefahrensignalen regelrecht 'abgescannt'. Bei ADHS-Betroffenen mit einer ausgeprägt starken ängstlich-hypochondrischen Selbstbeobachtung wird das Zuviel an Input offensichtlich. Es macht sich dann bemerkbar, wenn die komplexen Wahrnehmungsinhalte nicht mehr adäquat ausgefiltert und 'sortiert' werden können: Die Gedanken und die Wahrnehmungen können durch die Filterschwäche so schwammig und verschwommen sein, dass die betreffende Person die eintreffenden Informationen gar nicht mehr angemessen auswerten kann. Probleme in der Selbstbeurteilung bzw. in der adäquaten Selbsteinschätzung können also dann manifest werden, wenn die cerebralen Filterfunktionen (Inhibition) der betreffenden Person ADHS-bedingt erheblich eingeschränkt und gestört sind.

Festzuhalten bleibt aber, dass viele Menschen mit einer ADHS trotzdem sehr gute Selbst- und Fremdbeobachter sein können. Entscheidend ist ja, wie das Gehirn die eintreffenden Informationen verarbeitet. Vielen gelingt es, ihre Wahrnehmungen (auch über sich selbst) angemessen 'auszuwerten' und identitätsstiftend zu integrieren. Die mit der Reizoffenheit verbundene Sensibilität kann Intuition und Empathie sogar befördern.

Ein reduziertes Selbstwertgefühl bei Menschen mit einer ADHS kommt aber auch zustande, da die betroffenen Personen die kognitiven Defizite kompensieren müssen, um im sozialen Kontext nicht noch mehr aufzufallen: Immer wieder müssen sie zu Notlügen greifen oder sie konfabulieren, um nicht aufzufallen. So berichtete eine ADHS-Patientin, dass sie sich jeweils den ersten wichtigen Begriff eines Dialogs besonders gut merkte, um nicht in eine peinliche Situation zu geraten, falls sie in zu langen Gesprächspassagen des Gegenübers den Faden verlor. So konnte sie den Anschein aufrechterhalten, dass sie dem Gespräch problemlos Folgen konnte. ADHS-Betroffene sind 'Weltmeister' im Schummeln. Dank ihrer Intelligenz sowie ihrem fotografischen Gedächtnis konnten sie mit der Hilfe von 'Spickzetteln' viele 'heisse' Situationen in der Schule oder in der Ausbildung bewältigen. Allerdings leiden die meisten ADHS-Betroffenen in der Folge unter ihren Lügen, dem Schummeln und unter dem Konfabulieren: Das schlechte Gewissen plagt sie. Tief in ihrem Inneren denken Sie, sie seien im Grunde genommen Versager/-innen und hätten das Erreichte gar nicht verdient. Ihre Leistung wird als 'unecht' erlebt. Übrig bleiben Schuldgefühle und schlechtes Gewissen.

Auch im Beziehungsbereich zeigen sich die Folgen der 'Mehrkanaligkeit' bezüglich des Selbstwertgefühls: ADHS-Betroffene suchen nämlich oft viel Nähe und Halt bei ihren Bezugspersonen. Das Gegenüber soll helfen, die eigene 'Orientierungslosigkeit' zu kompensieren. Das Beziehungsverhalten erscheint daher oft symbiotisch: Kinder mit einer ADHS können sich oftmals nicht von ihren Müttern trennen. Der Besuch eines Kindergartens stellt für viele dieser Kinder eine traumatisierende Situation dar. Der Trennungsschmerz ist für sie oft unerträglich. Alleine sein heisst für sie, sich selbst quasi zu verlieren. Erwachsene Menschen mit einer ADHS erwarten oft absolute Offenheit in der Zweierbeziehung. Durch ihr bedrängendes und impulsives Verhalten erfahren Sie oft auch Zurückstossungen und Verletzungen. Sie zeigen auch Mühe beim 'sich Abgrenzen' und beim nicht 'Nein-sagen-können'. Das niedrige Selbstwertgefühl zeigt sich ausserdem in der Neigung zu Eifersucht, unter welcher viele ADHS-Betroffene leiden. Durch die 'Mehrkanaligkeit' ist in der Regel auch die Empfindsamkeit hoch. Betroffene erleben sich als leicht verletzbar, sie spüren oftmals auch die Schmerzen anderer und sind ausgesprochen intuitiv. Das kann auch Ängste auslösen. Viel zu vieles beziehen Sie auf sich selbst. Sie sind schnell beleidigend und eingeschnappt. Alles in allem: Sie haben schnell das Gefühl, in ihrer Beziehung alles falsch zu machen und erleben sich mehrheitlich als beziehungsunfähig.

Das Herausbilden von Selbstwertgefühl und Ichbewusstsein setzt auch voraus, dass man sich an identitätstiftende Erlebnisse in der eigenen Biografie auch erinnern kann. Dieser Effekt des sich Erinnerns und des Wiedererkennens ermöglicht es, dass Menschen sich in einem zeitlichen Kontinuum erleben können und um ihre eigene Geschichte wissen. Es zählt nicht nur die Gegenwart, sondern auch die Vergangenheit und die Zukunft. Erst das Wissen um diese Dimensionen und die daraus resultierenden Gefühle machen Menschen ein Stück weit immun und unabhängig gegenüber den Wirren des Alltags.

Menschen mit ausgeprägten ADHS-Symptomen sind hingegen oftmals stark in der Gegenwart verhaftet. Da ihr Ich-Gefühl auf Grund der starken Stimulusgebundenheit, ihrer Vergesslichkeit sowie der vielen negativen Erfahrungen nur mangelhaft ausgebildet ist, können sich viele ADHS-Betroffene innerlich nicht an ein mehr oder weniger starkes Selbst 'anlehnen'. Sie finden in sich selbst keine 'Seelennahrung'. Die Reizoffenheit bzw. die Mehrkanaligkeit bringen es mit sich, dass für das aktuelle Befinden primär der Augenblick und die Gegenwart zählen. Gefühle von Identität und Selbstbewusstsein sind deswegen so instabil, weil sie beinahe täglich neu gebildet werden müssen: Erfolgserlebnisse vermögen kurzfristig 'aufzupushen', Enttäuschungen können die Stimmung blitzschnell in den Keller sausen lassen.

Menschen mit einer starken ADHS leben vorwiegend im Hier und Jetzt. Sie sind deswegen verletzbar für Dinge, welche andere Menschen viel leichter wegzustecken vermögen. In der klinischen Praxis kann in diesem Zusammenhang immer wieder beobachtet werden, dass Patienten mit einer starken ADHS sich primär an negative und traumatisierende Erlebnisse erinnern. Nur massive Traumatas vermögen halt Spuren im Gedächtnis zu hinterlassen. Fatalerweise sind es dann in erster Linie diese schmerzhaften Erinnerungen, welche das Grundgerüst des Selbstgefühls bilden.

Resistent zu sein für die alltäglichen Widrigkeiten des Lebens heisst auch, sich (in einem positiven Sinnzusammenhang) in die Zukunft projizieren zu können. Auch dies fällt natürlich vielen Menschen mit einer ADHS ausgesprochen schwer: Es sind nicht nur die vielen Entmutigungen, sondern auch das ADHS-bedingte kognitive Unvermögen, diese zukunftsbezogenen Szenarien innerlich repräsentieren zu können. Dies erklärt unter anderem, dass die Zukunft für viele Menschen mit einer ADHS - sofern sie überhaupt bedeutsam ist und 'ins Auge gefasst werden kann' - mit Angst und Sorgengefühlen besetzt ist.

Auch die Folgen der Impulsivität können sich negativ auf das Selbstbild auswirken: So haben viele ADHS-Betroffene erhebliche Mühe im Umgang mit Geld. Die Störungen der Impulskontrolle, welche sich zum Beispiel in emotionalen Ausbrüchen, in Essstörungen, bei Suchtstörungen (Spielsucht) oder bei vorsätzlichen Selbstverletzungen auswirken können, zeigen sich insbesondere auch im Umgang mit Geld. Hinzu kommt, dass es ADHS-Betroffenen oft ausgesprochen schwerfällt, mit den Ressourcen haushälterisch umzugehen. Viel leben von "... der Hand in den Mund ". Die eingeschränkten Planungsfunktionen und die eingeschränkte Verhaltensregulation können sich in diesen Bereichen besonders störend bemerkbar machen. Viele Menschen mit einer ADHS klagen denn auch über anhaltende Existenzängste. Es fehlen das mehrheitlich stabile Gefühl von Sicherheit sowie die materiellen Grundlagen: Der impulsive und unstetige Lebensvollzug verhindert oft ein reguläres Einkommen sowie das Auskommen mit den zur Verfügung stehenden finanziellen Mitteln. Andere wiederum sind beinahe zwanghaft bemüht, ihr inneres Chaos zu kompensieren, sind übermässig sparsam und führen ein äusserst spartanisches Leben.

Ferner zeigen sich Folgen der Impulsivität darin, dass ADHS-Betroffene immer wieder "ins Fettnäpfchen treten". Dies kann Scham- und Schuldgefühle auslösen. Als eines der wesentlichen Kennzeichen der ADHS gilt eine mangelhafte Selbststeuerung. Nicht nur Kindern mit einer ADHS fällt es oft schwer, ihr eigenes Verhalten zu steuern. Auch erwachsene Menschen mit der ADHS bekunden oft grosse Mühe, wenn es darum geht, das eigene Verhalten, beispielsweise durch Selbstanweisungen, adäquat zu regulieren. Handlungsbegleitende kognitive Prüfprozesse sind oftmals viel zuwenig ausgebildet.

Weil zudem oftmals nicht ausreichend geplant und im Handlungsverlauf oft nicht innegehalten werden kann, und weil ohne kognitive Visualisierungshilfen nicht komplex und dreidimensional gedacht werden kann, leben, fühlen und reden Menschen mit einer ADHS wie gesagt in erster Linie im Hier und Jetzt. Und dieses kann immer wieder zu unangenehmen Situationen und Peinlichkeiten führen. Die Auswirkungen auf das Selbstwertgefühl können mitunter erheblich sein. Diese Erfahrungen bewirken, dass die Grundannahmen vieler ADHS-Betroffener, z.B. fehl am Platze zu sein, immer wieder aufs neue bestätigt werden. Sie erleben sich erneut als unfähig, als Versager, als sprunghaft, als unzuverlässig, als inkonsequent und als unecht. Diese Erfahrungen können Selbstvorwürfe, Dissoziationen und Depressionen auslösen.

Ein stabiles Ich-Erleben setzt weiter voraus, dass Menschen auch emotional mehr oder weniger kohärent 'funktionieren'. Falls nun die ADHS einen grossen Einfluss auf den Lebensvollzug eines Menschen hat, führt dies regelmässig zu einer sogenannten Affektlabilität. Da die Kognitionen ADHS-bedingt 'hüpfen', unkoordiniert und oft spontan erfolgen, sind diese ausgesprochen situationsabhängig. Dies bedeutet unter anderem, dass kleinste Veränderungen in der Umwelt grössere 'emotionale Wellen' aufwerfen können. Der daraufhin folgende Affekt basiert dann erstens auf der emotionalen Bewertung des aktuell Vorgefallen und zweitens auf dem im Lauf des Lebens zu Grundannahmen 'geronnenen' Selbst- und Weltbild.

Menschen mit einer ADHS zeigen quasi nie ein durchschnittlich normales Aktivitäts-, Motivations- oder Energieniveau. Sie sind entweder über- oder untererregt. Ursache ist die ADHS-bedingte mangelhafte zentrale Aktivitätsregulation: Der Aktivierungspegel ist bei Interesse hoch, bei fehlender Stimulation und neuronaler Aktivität hingegen niedriger. Diese Menschen sind daher leicht erregbar, neigen aber eben so zu dysphorischen Stimmungslagen. Kennzeichnend ist in vielen Fällen eine ausgesprochene Stimmungslabilität. Im Gegensatz zu depressiven Störungen sind diese Stimmungsschwankungen stark stimulusgebunden und weniger ausgeprägt von Selbstvorwürfen begleitet. Anders ist auch der zeitliche Verlauf: ADHS-bedingte dysphorische Verstimmungen dauern in der Regel nur kurz an. Die Stimmung kann sich oftmals schnell wieder verbessern und die Betroffenen sind ausgelassen und fröhlich. Dieses Auf und Ab im Emotionalen ist aber oftmals nicht nur für die Betroffenen eine Belastung: Auch die Angehörigen sind durch diese Stimmungsschwankungen oft irritiert und wissen nicht, woran sie sind. Schnell kann dies zu ausgeprägten Beziehungskonflikten führen.

In der psychotherapeutischen Praxis kann immer wieder beobachtet werden, das Menschen mit einer ADHS die kognitiven Defizite zu kompensieren versuchten. Gerade Mädchen scheinen in der Schulzeit die Störungen der Aufmerksamkeit wettzumachen mit besonders eifrigem Lernverhalten. Vor lauter Angst, etwas zu vergessen, zu verpassen oder zu überhören und dann dumm dazustehen, lernen diese Mädchen oftmals übertrieben intensiv. Das ausgeprägte visuelle Gedächtnis von Menschen mit einer ADHS ermöglicht es ihnen, vom Gesehenen ein fotografisches Abbild zu erzeugen. Sie geben dann an, auswendig zu lernen. Um in der Prüfungssituation das Gelernte reproduzieren zu können, wird das visuelle Bild dann kognitiv reproduziert. Dieser Vorgang ist natürlich sehr anstrengend, störungsanfällig und absorbiert das Kind in grossem Masse. Diese 'Lernmethode' scheitert meist spätestens beim Eintritt ins Gymnasium. Intelligente Kinder vermögen die ADHS-bedingte Defizite lange zu kompensieren. Steigen dann die Anforderungen in der Schule, kommen die Konzentrationsstörungen oft schmerzhaft zum Tragen. Durch das zeitliche Zusammentreffen mit der Pubertät kann so eine 'Problemkarriere' ihren Anfang nehmen. Diese Kinder wissen dann überhaupt nicht mehr, wer sie eigentlich sind. In der Grundschule galten sie als gut und intelligent und nun erfolgt plötzlich ein Einbruch der Leistungen. Die Kränkung ist oftmals so gross, dass der Griff zu Suchtmitteln oder anderen stimulierenden Aktionen (z.B. Delinquenz) vorgezeichnet erscheint.

Ferner können in der psychotherapeutischen Praxis immer wieder atypische Bilder von Zwangsstörungen beobachtet werden. Atypisch deswegen, weil die Zwangsgedanken und Zwangshandlungen nicht oder nicht immer mit den sonst obligaten Angstgefühlen gekoppelt sind. Betroffene können teilweise ohne grosse Mühe von diesen Handlungen absehen, ohne dass dies Ängste auslöst. Die ADHS-bedingten kognitiven Defizite erzeugen in vielen Menschen ein ausgeprägtes Bedürfnis nach Sicherheit. Je nach Lebensbedingungen können sich auch zwanghafte Charaktere entwickeln. Erstaunlich häufig erfolgt im Laufe des Lebens bei ADHS-Patienten ein Wechsel von einem impulsiven und chaotischem Leben hin zu einer überangepassten und zwanghaften Lebensführung.

Bei den braven und überangepassten Mädchen oder Jungs mit einer ADHS ist zu berücksichtigen, dass auch ein oder beide Elternteile an der ADHS leiden können. Dies bringt es gelegentlich mit sich, dass der Erziehungsstil oft inkohärent ist. Väter und Mütter mit einer ADHS fühlen sich leicht überfordert, sind oft ungeduldig und inkonsequent. Kinder von ADHS-Eltern haben es oft sehr schwer, auch wenn sie selbst keine ADHS haben. Es fehlt ihnen häufig an einem stabilen Bezugsrahmen. Durch das oftmals inkohärente Erziehungs- und Beziehungs-Verhalten der Eltern können die Kinder ihre Wahrnehmungen nicht kontinuierlich an Konsequenzen und Gefühle binden. Das kann negative Phantasien und Ängste begünstigen, da Kinder ihre Kognitionen dann nur schwer an Realität überprüfen können. Es entsteht gelegentlich ein 'Nebeneinander' von Sprache, Beziehungserleben und Emotionen. Eltern mit ausgeprägtem und schlecht kompensiertem ADHS sind ihren Kindern auch nicht immer ein gutes Vorbild bezüglich Identität und Selbstwerterleben. Dies heisst natürlich nicht, das Mütter oder Väter mit einer ADHS prinzipiell 'schlechte Eltern' sind: Sie erziehen ihre Kinder so gut oder so schlecht wie andere auch.

In der Psychotherapie lernen Menschen mit einer ADHS, ihre Zerstreutheit und Zerfahrenheit zu anerkennen. Das Aufarbeiten der eigenen Geschichte ermöglicht es ihnen, sich neu kennen und verstehen zu lernen. Ferner werden in einem psychotherapeutischen Prozess fehlende Kompetenzen in zwischenmenschlichen Bereichen auftrainiert. Sollten psychische Störungen vorliegen (beispielsweise Depressionen oder Angsterkrankungen), so werden auch diese Störungen spezifisch behandelt. Psychotherapie bei der ADHS muss zum Ziel haben, ADHS-Betroffene zu befähigen, ihre Selbststeuerung zu optimieren. Dazu können verhaltenstherapeutische Methoden, aber auch Techniken aus der kognitiven Psychotherapie, Verwendung finden.

Durch den Mangel an Identitätsgefühl haben Betroffene oftmals eine überhöhte Vorstellung von Ganzheit und psychischer Kohärenz. Jeder Zwiespalt, jedes Gefühl von Ambivalenz und jeder Zweifel lösen als Signale in den Betroffenen tiefsitzende existentielle Ängste aus. Von daher können Menschen mit einer ADHS in einer Psychotherapie lernen, sich selbst trotz Widersprüchlichkeiten annehmen und lieben zu lernen.