+++ ZUM BEGRIFF PSYCHISCHE KRANKHEIT +++

" Nicht der psychisch Kranke ist krank,
sondern die Gesellschaft in der er lebt
."
(frei nach R. v.Praunheim)


Man muss sich immer vor Augen halten, daß es bei der Therapie von "psychisch Kranken" nicht nur um die Heilung von Leiden, sondern zugleich auch um die Normalisierung des Abweichenden geht.
Es spricht alles dafür, dass das individuelle Kranksein unter anderem eine durchaus gesunde Reaktion auf die -
nur sehr begrenzt menschenfreundlichen - Verhältnisse in der Leistungs- und Konsumwelt ist.
Was gemeinhin als "psychische Krankheit" eingeordnet wird,
ist deshalb nicht nur Ausdruck persönlicher Defizite: es ist eine Art, sich in einer unhaltbaren Lage
dennoch als selbstbestimmter Mensch zu behaupten.
So gelesen, enthält der "Defekt" des nicht mehr funktionierenden Menschen eine Kritik an den Verhältnissen,
in denen sein Funktionieren erwartet wird.
Ich sehe meine "Krankheit" als zu mir gehörig an,
als Ausdruck meiner Person, der in seiner Form zunächst oft unverständlich ist, aber doch lesbar und begreifbar werden kann, vorrausgesetzt, man bringt das Interesse dazu und die Geduld dafür auf.
Was mit dem sogenannten Kranken geschieht, hat seinen Sinn, den wahrzunehmen erlernbar ist.
Das "Verrücktsein" stösst aber gemeinhin auf Unverständnis, Angst und Spott.

Psychiatrie und die Produktion von Aussenseitern

Die Psychiatrie hat sich sicher verändert seit den siebziger Jahren, * trotzdem muss ich mir noch oft an den Kopf fassen ob der Ignoranz auch von Fachleuten, die immer noch dem Mechanismus der Stoffwechselstörungen nachjagen, die ja in ihrer Auffassung "psychische Krankheiten" verursachen. Alles was man ehrlicherweise sagen kann, ist, dass man über die Entstehung dieser Phänomene nichts weiss.
Für mich gehören sie einfach zum menschlichen Kosmos und sie sind zwar leidvoll, aber keine Katastrophe.
Wirklich schlimm ist die auf das Verrücktsein folgende Ausgrenzung durch dumme und weniger dumme Menschen. Ich bin überzeugt, dass es halb so wild ist, durch so eine Krise hindurch zu gehen, wenn man nicht gemieden, verlacht, für nicht geschäftsfähig, unmündig, gefährlich (und was der Zuschreibungen mehr sind) erklärt wird.Die Versuche, den "psychisch Kranken" zu entstigmatisieren, indem man um Verständnis für ihn wirbt, scheinen mir an der Sache vorbeizugehen.
Notwendig scheint mir zu sein, dass sich die Gesellschaft darum Gedanken macht, wie sie mit ihren Randbewohnern umgeht.
"Vorurteile und Diskriminierungen sind nicht Merkmale der betroffenen Minderheit und nicht bei ihnen zu kurieren, vielmehr bestehen sie in den Köpfen der Mehrheit. Stigmata, Stereotype oder Vorurteile sind Einstellungen der Mehrheitsbevölkerung. Im gleichen Maße, wie die stigmatisierenden Einstellungen sich milderten, würde die soziale Lage der Stigmatisierten sich bessern : Unberührbarkeit und Kommunikationsbarrieren würden fallen, Arbeitsplätze stünden offen, die Segregation wäre aufgehoben. Entstigmatisierung kann nur insoweit gelingen, als die diskriminierenden Einstellungen der Gesellschaft verschwinden."
(Hohmeier, Stigmatisierung)

Projektion als Selbst- und Massenbetrug

Nicht psychische Krankheit ist erklärungsbedürftig, vielmehr das immer wiederkehrende Bedürfnis der Dummen und Zynischen, Aussenseiter als Projektionsfläche ihrer Ängste und Hassgefühle zu missbrauchen und sie damit erst wirklich zu solchen zu machen.
Der Verrückte, der Penner, der sexuell anders orientierte, der Mensch mit anderer Hautfarbe, der mit anderen kulturellen Präferenzen etc. ist das nützliche Vehikel dieser Vorgehensweise.
Feindseligkeit ist immer leicht zu wecken - und die immer latent vorhandenen Ressentiments werden gerne genutzt, um von tatsächlichen Missständen abzulenken, etwa Ungerechtigkeit in sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen.
Die Produktion von Aussenseitern hat damit eine wichtige Funktion bei der Aufrechterhaltung schlechter Bedingungen.
Man kann sich um so normaler und angepasster, eben als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft fühlen, wenn man sich von Andersartigen (die, wenn man hinguckt, gar nicht so andersartig sind) wohltuend unterschieden fühlt.
Die eigenen Ängste finden ihren Ausdruck im Anderen, statt an sich selbst schmerzhaft wahrgenommen werden zu müssen, angestaute Hassgefühle finden ihre wohlfeile Abfuhr, statt auf die eigenen Missstände zu verweisen und Änderungen herauszufordern.
Vorläufiges Fazit: Wenn das Stigmatisieren aufhören soll, kann es nur darum gehen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Projektion und Ausgrenzung überflüssig werden.
Frage: Welcher Art sind diese Bedingungen ?
"Als wirklich schwerbehinderter Mensch, der nur mit allergrößten Schwierigkeiten ohne die Hilfe anderer den Alltag überstehen könnte, habe ich das Recht, ja die Pflicht, mich meiner Umwelt zuzumuten. Ich bin ein Teil des Ganzen im menschlichen Kosmos. Ich trage dazu bei, daß niemand vergißt, dieses Ganze zu sehen, wie ich auch von anderen mit ihrer eigenen Individualität darauf gestoßen werde, in ihnen einen Teil des Ganzen zu sehen, ohne den es den Menschen nicht gibt in seiner Totalität."(Fredi Saal, zitiert aus K. Dörner: Tödliches Mitleid)

von: www.irresein.de