Fotos: Silvie
H.*real*
(achtung! nur anklicken wenn ihr sicher seid das ihr das auch sehen
wollt!)
Reportage:
Ich blute, also bin ich.
von patrick bierther
Weil der körperliche Schmerz den seelischen Schmerz beiseite schiebt, legen
Hunderttausende regelmäßig Hand an sich: Sie schlitzen sich die Arme auf, schmirgeln
sich die Haut ab, brennen sich Löcher in den Bauch, verbrühen oder verätzen
sich. Und fühlen sich danach erst mal besser. "Selbstverletzendes Verhalten"
- Annäherung an ein Paradoxon.
Die Münchner Studentin Pia* spürt es schon lange vorher kommen. Den ganzen Abend
lang ist in ihr eine Unruhe aufgezogen, jetzt hat sie sich zu einer wilden Anspannung
verdichtet, ist eine Energie geworden, die sich entladen muss. Pia weiß, was
jetzt kommen wird. Sie will es nicht tun, sie hasst sich dafür, aber sie weiß,
dass sie es wieder tun wird. Schon überprüft Pia die Werkzeuge. Papiertaschentücher
und ein Fläschchen Alkohol stellt sie auf dem Schreibtisch bereit. Dann nimmt
sie eine Rasierklinge aus der Pappschachtel, fasst sie vorsichtig an, um sich
nicht in den Finger zu ritzen, und ohne innezuhalten schneidet sie sich den
Unterarm auf.
Ein Spalt klafft im Körper, bisweilen ist eine fahle Sehne zu sehen. Warmes
Blut fließt über die Haut - für Pia erfrischend, "ein Zeichen, dass man
noch nicht tot ist. Wenn man sich seelisch tot, leer fühlt, dann hat Blut etwas
unglaublich Belebendes! Man ist befriedigt, packt seine Utensilien weg, verarztet
sich, und dann ist es, als ob es nie gewesen wäre. Aber das Schneiden hinterlässt
ewig sichtbare Narben." Die Narben darf niemand sehen, vor allem nicht
die Eltern; wenn Pia sich die Ärmel hochkrempeln muss, zum Geschirrspülen in
der WG, dann werden ihr lästige Fragen gestellt, und Pia muss immer einen Arbeitsunfall
erfinden oder eine böse Katze.
Die Wunden vernarben nach einigen Wochen. Das ist die Zeitspanne, die es dauert,
bis sich bei Pia wieder ein Gefühl unendlicher Leere einstellt, von Trauer oder
Hass - ein unerträglicher Seelenschmerz, der irgendwie übertüncht werden muss,
am besten mit körperlichen Schmerzen.
"Als es angefangen hat, wusste ich zuerst nicht, was ich da tat, ich dachte,
ich wäre irre und die Einzige auf der Welt." Dass dem nicht so ist, davon
überzeugten sie Dutzende von Einträgen ins Gästebuch einer Internetseite. Eine
Notiz: "Ich ritze mir dauernd meinen Arm auf, und alle halten mich deswegen
für verrückt... Den ganzen Tag den Wunsch, sich den Arm aufzuritzen... Ich will
endlich mit jemandem reden, der mich versteht." Eine andere: "Endlich
fühle ich mich nicht mehr unverstanden, weil ich jetzt weiß, dass es da draußen
Mädchen und Frauen gibt, die genauso fühlen wie ich!" Auf der Seite "Versteckte
Scham" stieß Pia auf einen Chatroom. Hier konnte sie sich zum ersten Mal
mit anderen austauschen, die sich selbst verletzen.