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Sie traf eine 15-jährige Schülerin, die berichtete, neulich sei ihr leider das Messer, mit dem sie sich gerade gemütlich auf dem Sofa den Arm aufgeschnitten hatte, abgerutscht und im Handgelenk stecken ge-blieben; in der Notaufnahme hätten "die Idioten natürlich in den Bericht geschrieben: vermutlich Selbstmordversuch".
Sie traf eine dreifache Mutter, die sich als abgeklärte, narbenbedeckte Veteranin vorstellt, die sich seit zwanzig Jahren selbst verletzt und doch sagt, das solle ihr Leben nicht zu stark beherrschen: "Es gibt noch anderes auf der Welt."
Sie traf hinter Pseudonymen versteckte Menschen, die sich mit ihren Qualen brüsteten, und solche, die sie trösteten. Und sie las zum ersten Mal, "dass das, was ich tue, sogar einen Namen besitzt".
Der Name ist sperrig und lautet "Selbstver-letzendes Verhalten" (SVV), manchmal begegnet man auch "Autoaggressionen" oder "Selbstbeschädigung". Der Begriff kam erst Mitte der neunziger Jahre auf. Damals drängte Lady Diana mit ihrem Bekenntnis zu Bu-limie und Selbstverletzungen an die Öffent-lichkeit. Die Medical Tribune schrieb 1995 von "einer Krankheit, die rapide zunimmt".
Heute sieht man darin keine Krankheit, sondern ein Symptom. Selbstverletzendes Verhalten kann Ausdruck so unterschied-licher Leiden sein, dass viele Ärzte mit der Diagnose überfordert sind. Wenn es schnell gehen soll, lautet sie meist "Suizidversuch". Fachleute wie der Psychotherapeut Dr. Gerhard Paar wissen es besser: "Dahinter steht keine suizidale Absicht. Die wollen nicht sterben!"
Paar ist ärztlicher Direktor der psycho-somatischen Fachklinik in Geldern am Niederrhein. In 16-jähriger Arbeit mit SVV-Patientinnen ist ihm klar geworden: "Selbstverletzung dient nicht dazu, sich selbst zu vernichten, sondern sich selbst zu bewahren." Wenn die Grenzen zwischen dem Ich und der Umgebung zu verschwimmen drohen, dann wissen sich manche Menschen nur noch dadurch zu helfen, dass sie das Grenzorgan zwischen innen und außen fühlbar machen: die Haut. Auf Kosten des Körpers helfen sie der Seele. Sie vergewissern sich ihrer selbst; Pia schaffte es nur so, "mir selbst ein Gefühl zu machen, mit dem ich umgehen kann".

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