Einem Therapeuten vertraut sich aber nur
an, wer sich seines Problems bewusst ist. Die heute 30-jährige Kölnerin Annette,
die solche und andere Erste-Hilfe-Tipps auf ihrer Internetseite "Versteckte Scham" zusammengestellt hat, sagt: "Bis
ich 18 war, habe ich überhaupt nichts davon gehört. Ich dachte, ich habe den
einzigen Knall auf der Welt. Dazu kam noch meine christliche Erziehung: ,Dein
Körper soll ein Tempel des Herrn sein" und ,Wie soll der Herr dich so mögen?".
Aber geholfen hat er mir ja auch nicht."
Annette fragte den Pfarrer um Rat. Der Pfarrer antwortete: Wir beten jetzt mal,
und der Herr wird"s schon richten. Sie ging zum Hautarzt und dachte, bevor
er dir jetzt wieder "ne Cortisonsalbe verschreibt, sagst du ihm direkt,
dass du das alles selbst tust. Der Hautarzt tat einfach, als hätte er nicht
gehört. Annette fing eine Gesprächstherapie an. Als sie beim Blutdruckmessen
die Narben sah, sagte die Therapeutin: Ach, das ist doch nicht schlimm. "Da
hätte ich ihr in die Fresse hauen können."
Ernst genommen fühlte sich Annette erstmals im Internet. Sie fand Seiten für
missbrauchte Frauen und für psychisch Kranke und schließlich eine speziell über
Selbstverletzungen, aber die war auf Englisch. Annette, ohne therapeutischen
Fachkenntnisse und große Internet-Erfahrung, beschloss, auf Deutsch die Seite
aufzubauen, die sie selbst gern vorgefunden hätte. Das war Ende Oktober 1999.
Mittlerweile tauschen sich im "Versteckte Scham"-Chat jeden Dienstag
und Freitag ab 21 Uhr Betroffene aus. Hier konnte Annette zum ersten Mal alles
loswerden: Dass sie sich schon mit 14 immer Hand und Po an der Raufasertapete
aufgeschürft hat. Dass sie nicht nur die ersten Pubertätspickel ausgequetscht
hat, sondern alle erreichbaren Poren; heute ist ihre Haut so vernarbt, dass
sie an manchen Stellen nur noch mit der Nähnadel an die Talgdrüsen kommt. Wie
sie sich einmal die Hornhaut von den Füßen gerissen hat, ein Gefühl, als würde
man mit bloßen Füßen ein Fahrrad abbremsen. Dass sie es immer als Glück empfunden
hat, dass ihr Körper aussah wie von einer Allergie gezeichnet, und dass sie
heute nicht mal mehr lügen muss, weil die ständigen Entzündungen zu einer Schuppenflechte
geführt haben.
Nach einem halben Leben der Selbstverletzung an Armen, Beinen, Bauch und Brust
gesteht sich Annette heute ein: "Ich kann"s nicht mehr sein lassen."
Sie weiß, dass der Chat allein sie kaum dazu bringen wird, clean zu werden.
Aber der Austausch mit anderen hat sie so weit gebracht, vieles zu verstehen;
dass ihr Verhalten eng verknüpft ist mit ihren Missbrauchserfahrungen: "Das
ist Schutz vor Nähe, vor Sexualität. Ich habe immer gedacht: So wird dich nie
jemand mögen können, und niemand wird sich das ansehen wollen, also wirst du
dich auch nie vor jemandem ausziehen müssen."
Wo schon Ärzte oft überfordert sind, fühlen sich Partner, Angehörige erst recht
hilflos: Wie reagiert man angemessen auf die schockierende Entdeckung, dass
ein nahe stehender Mensch regelmäßig seinen Körper schwer misshandelt?
Annette: "Auf keinen Fall sollte man das Verhalten bewerten. Es ist wichtig
rüberzubringen: ,Was du da tust, ändert nichts an meinen Gefühlen dir gegenüber."
Das kann man auch in einem persönlich übergebenen Brief klar stellen - sofort,
bevor der andere dicht machen kann."
Betroffene blocken ab, wenn man ihnen Vorwürfe macht, ihnen droht, sie für verrückt
erklärt. Sie fühlen sich erniedrigt, wenn man sich vor ihnen ekelt. Wenn man
sie fragt: Was zum Teufel fällt dir denn ein? Und vor allem: wenn man sie allein
lässt. Der nächste Griff zum Messer ist dann unausweichlich.
Pia: "Es ist eine Sucht, die man mit Hilfe von Therapien und mit viel Liebe
und Zeit beheben kann. Angehörige müssen wissen, dass man nicht eklig ist, wenn
man es macht! Dass man Liebe und Geborgenheit braucht, keine Vorwürfe. Sie dürfen
nicht in Panik ausbrechen, sondern müssen helfen!"
Wenn ein sehr, sehr langer Weg zu Ende ist, dann kommt man vielleicht noch einmal
zurück auf www.versteckte-scham.get-2.com. Und hinterlässt eine Nachricht wie
der 26-jährige Thomas, der sich sieben Jahre lang die Beine aufgeschnitten hat:
"Ich möchte was erzählen, was ich am 9.1. geschafft habe. Ich habe meine
ganzen Klingen und Cutter weggeschmissen. Das war ein guter Vorsatz zum neuen
Jahrtausend, und nun ist er in Erfüllung gegangen. Ich finde es super. Und ich
weiß nicht, ob ich das durchhalte. Ich habe mich selbst darüber gewundert, dass
ich es geschafft habe. Danke auch an die Chatgruppe, die hat mir etwas geholfen,
dass ich so weit gekommen bin." Der Eintrag ist bis heute nicht aktualisiert.
Drowning in the dark blood of would-be brothers who,
beyond the pressing of fingers, those for whom
the slice is only the beginning, and a different kind
of light comes in, begs recognition and peace of mind.
-- Judybats
"Niemand anderer zu sein als ich selbst, in einer Welt, die ihr bestes
tut, Tag und Nacht, mich zum Mittel aller Anderen machen, den härtesten Kampf
zu kämpfen, welchen jegliches menschliche Wesen kämpfen kann und nie aufhören
zu kämpfen" - (ee cummings)