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Eindeutig ist Selbstverletzung ein vorwiegend weibliches Phänomen: Mindestens zwei Drittel der Betroffenen sind Frauen. "Auffällig viele davon sind Krankenschwestern oder Arzthelferinnen", sagt Paar: "Die verstehen natürlich was davon."
Selbstverletzendes Verhalten tritt meist zuerst in der Pubertät auf, manchmal schon bei Zwölfjährigen. Die psychosomatische Station in der DRK-Kinderklinik Siegen ist zu einem Drittel mit Selbstverletzerinnen belegt. Der Psychologe Reinhard Semmerling spricht von einer "Welle", die er seit einem halben Jahr beobachtet: "Das nimmt auf jeden Fall deutlich zu. Die stecken sich gegenseitig an, der Nachahmungseffekt ist hoch."
Selten hat Semmerling es mit Opfern von Missbrauch oder Gewalt zu tun. Er hat andere Ursachen ausgemacht: "Die Jugendlichen sind sich selbst überlassen, die Eltern haben immer weniger Zeit für sie." Oft hätten die Eltern den erzieherischen Einfluss verloren: "Diese Jugendlichen haben zum Beispiel nie vermittelt bekommen, dass ihr Körper etwas Wertvolles ist, das es zu pflegen gilt. Den Mangel an Zuwendung kann die Clique nicht ausgleichen. Er führt zu innerer Leere und zugleich zu enormen Spannungszuständen, die nicht auszuhalten sind. Um die abzubauen, ritzen sich die Mädchen die Haut auf; die Jungen richten ihre Aggressionen meist nach außen."
Semmerling hat es mit seinen Patientinnen relativ leicht: "Die sind therapiewillig, sobald sie sehen, dass sich jemand für sie interessiert. Die fühlen sich dann wohl und richten sich hier ein." In der Klinik lernen sie, den Alltag zu strukturieren: feste Essenszeiten einzuhalten, und dass Gespräche regelmäßig stattfinden sollen, nicht nur zufällig, wenn man sich in der Wohnung mal über den Weg läuft. Semmerling verschreibt "Elternsprechstunden" - alle ein, zwei Tage sollen die Eltern den Kindern eine halbe Stunde lang zuhören. Mit seinen Patientinnen trainiert er, den Druck anders abzubauen als mit der Klinge: am Boxsack, auf dem Fahrrad, mit dem Zeichenstift.

Nicht jedes selbstverletzende Verhalten bei Jugendlichen sei dramatisch, sagt Paar: "Manches davon ist Initiationsriten zuzuordnen und hilft, bestimmte Reifungs-Krisen zu bewältigen, die ohne Therapeuten in den Griff zu kriegen sind." Doch das gelegentliche Ritzen kann sich zu Metzeleien steigern. Schnitte mit Klingen, Scherben, scharfen Plastik- oder Metallstücken sind die gängigste Methode, aber nur eine von vielen. Was Menschen einander antun können, in Folterkammern etwa, das tun sie auch sich selbst an. Teenager wie über 50-Jährige ziehen sich Hautstücke ab, reißen sich Haare und Nägel aus, rennen mit dem Kopf gegen die Wand, zapfen sich Blut ab, schieben sich Splitter unter die Haut oder in den Darm. Sofern sich die amerikanischen Zahlen auf Deutschland hochrechnen lassen, haben mehr als 50000 Deutsche schon einmal versucht, sich willentlich einen Knochen zu brechen.
Wie Pia fühlen sich die meisten allein damit. Darum ist für Dr. Paar die virtuelle Selbsthilfegruppe im Internet wichtig: "Ich kann eine Störung, die ich selber nicht verstehe, besser erkennen. Aber das ist ein erster Schritt, dabei darf es nicht bleiben." Die Fachleute sind sich einig, dass bei fortwährender Selbstverletzung therapeutische Hilfe unumgänglich ist - in der Regel zunächst stationär, später ambulant.
Kern jeder Therapie ist es, den Patientinnen beizubringen, Konflikte nicht mit dem Körper auszutragen, sondern zunächst mit dem Therapeuten und später mit sich selbst. Paar: "Sie hangeln sich in der Behandlung schrittweise von gefährlichen zu ein bisschen weniger gefährlichen Situationen. Wenn die sich vorher täglich geschnitten haben und es dann vier Tage lang schaffen, es nicht zu tun: Das ist schon ein Erfolg."
In der Therapie lernen die Patientinnen, die Verletzung so lange wie möglich hinauszuzögern. Wenn der Druck unerträglich wird, dürfen sie in Paars Gelderlandklinik einen Eiswürfel auf die Haut pressen, das tut weh und betäubt. In der Psychiatrischen Klinik der Münchner Universität erhalten die Patientinnen Gummibänder, die sie sich über die Unterarme streifen und schnalzen lassen können. Amerikanische Ärzte empfehlen, in eine Chilischote zu beißen. Wenn der Wunsch, Blut zu sehen, übermächtig wird, soll man Stücke eingefrorener roter Lebensmittelfarbe über die Haut reiben.

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