Wer sich mit der Rasierklinge Zugang zu
seinen Gefühlen verschaffen muss, hat oft traumatische Erfahrungen hinter sich:
sexuellen Mißbrauch, Prügel, Vernachlässigung. Aber nicht alle Missbrauchsopfer
verletzen sich. Nicht alle, die sich selbst verletzen, sind Missbrauchsopfer.
Manchmal verselbstständigt sich das Verhalten: Dann ist die Selbstverletzung
eine Sucht, sie geschieht um ihrer selbst willen, nicht mehr, um Druck abzubauen.
Manche Selbstverletzer wollen sich für vermeintliches Versagen bestrafen - andere
sind stolz darauf, die Schmerzen auszuhalten. Wenige outen sich; die meisten
quälen sich heimlich, vor allem nachts, wenn sie allein sind mit sich. Und für
jede Lebenslage hält die menschliche Phantasie eine andere Ausprägung bereit:
In den Gefängnissen kennt man die Löffelschlucker, die schwere Gesundheitsrisiken
eingehen, um auf die vermeintlich komfortablere Krankenstation verlegt zu werden.
Soldaten, die sich "zur Erfüllung der Wehrpflicht untauglich" machen,
indem sie sich selbst verletzen, Krankheit herbeiführen oder Heilung verhindern,
droht wegen "Selbstverstümmelung" bis zu fünf Jahre Gefängnis. Am
"Münchhausen-Syndrom" leidende "Krankenhauswanderer" nehmen
selbst chirurgische Eingriffe auf sich, indem sie exotische Krankheiten vortäuschen.
Sie wollen die Aufmerksamkeit der Ärzte genießen; ruhmverliebte Forscher gehen
ihnen nur zu gern auf den Leim. Dr. Paar: "Im Nachhinein versteht man nicht,
dass da allerseltenste Funktionsstörungen vermutet werden, dass Hauttransplantationen
vorgenommen werden, die nicht verheilen, und man vermutet dann wieder irgendeinen
Immundefekt dahinter. Selbst medizinische Kapazitäten wollen nicht hingucken,
dass die Patienten sich die Wunden immer wieder selbst aufreißen."
Am weitesten verbreitet ist das, was Pia sich antut: sich selbst wiederholt,
bewusst und ohne Tötungs-, Erpressungs- oder Täuschungsabsicht moderate Verletzungen
zuzufügen. Für Betroffene wird die Sache nicht übersichtlicher dadurch, dass
"schwerwiegende" Selbstverletzung für die Wissenschaft erst da beginnt,
wo Patienten sich selbst kastrieren oder Augäpfel ausreißen. Solche Verstümmelungen
geschehen nur selten, etwa bei Psychosen. Das, was als "moderat" bezeichnet
wird, ist Furcht erregend genug.
Wie viele Deutsche genau sich selbst verletzten, ist unbekannt. Selbst ausgewiesene
Fachleute behelfen sich mit Statistiken aus den USA. Dort soll es bis zu ein
Prozent der Bevölkerung sein, bei den 15- bis 35-Jährigen ist die Quote doppelt
so hoch. Paar: "Am besten können das die Hautärzte abschätzen, weil es
da zur Untersuchung gehört, dass die gesamte Hautoberfläche vom Arzt abgesucht
wird. Da geht man bei zwei Prozent der Fälle von Selbstverletzung aus. Bei Patienten
mit Borderline-Syndrom, einer Persönlichkeitsstörung, liegt die Quote bei 13
Prozent, bei den essgestörten Patientinnen bei bis zu 40 Prozent."